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PLATTFORM 05/17: ROTZBOLLEN
von Michael Setzer

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Hab eine Frau angelächelt. In der Bahn. Nur ganz kurz und sie schaute auch sofort angewidert weg. Was sie nicht wusste: man kann Menschen auch anlächeln, ohne mit ihnen reden/bumsen oder gemeinsam Kehrwoche machen zu wollen – zum Beispiel, weil sie wahnsinnig gut oder irgendwie witzig aussehen, weil’s halt einfach freundlich ist oder eben, naja: weil die Frau einen stattlichen Rotzbollen am linken Nasenloch hängen hatte. Also, von mir aus gesehen links. Von ihrer Seite aus war das rechts.

Manchmal ist es wichtig, den Blickwinkel zu berücksichtigen – es änderte dennoch überhaupt nichts an der Tatsache, dass sich der Popel fast poetisch an die Außenseite ihres Nasenflügels schmiegte. Wie so ein Kunstwerk. Ich verzichtete natürlich darauf, sie auf den Rotzbollen anzusprechen. Man möchte schließlich nicht aufdringlich erscheinen.

Es erscheint mir aufdringlich genug, dass 13 % der Deutschen zu wissen glauben, wovor sich die anderen 87% gefälligst zu fürchten haben. Das sind Leute, zu egoistisch, irgendwas zu teilen – aber wenn’s um Hass oder Angst geht, haben sie plötzlich die Spendierhosen an. Nur ein paar Stationen später beschimpfte mich schon eine alte Dame, und das, obwohl ich nur blöd an der Haltestelle stand und auf die nächste Bahn wartete, so wie man eben auf eine Bahn wartet, die dann hoffentlich gleich kommt. Doch die Hemmschwelle für öffentlichen Verbaldurchfall ist derzeit so weit unten wie der Anstand von Gerhard Schröder.

Die Dame durchschaute mich allerdings, zumindest grunzte sie, ganz grob, wie sehr sie von Gesindel wie mir die Schnauze voll hätte. Ich solle gefälligst dorthin verschwinden, wo ich hergekommen sei.

Ich: „Hä?“

Sie: „!%§“§/§%??!!!“

Da sie derart bockig war, beschloss ich, ihr unter keinen Umständen anzuvertrauen, dass dies sowieso meine ursprüngliche Absicht war: Dort hinzugehen, wo ich herkomme. Heslach. Wenn ich ehrlich bin, dachte ich sogar „Fucking Heslach!“. Sagte ich natürlich nicht, weil hauptsächlich Doofe so reden. Außerdem: Es gibt Bahnlinien, in deren Einzugsgebiet die Kommunikation sehr groß geschrieben wird. Manche Leute reden da sogar mit sich selbst.

Aber manchmal ist man halt etwas unsicher. Bin ja oft genug selbst wütend, das muss dann raus, wie so ein Hund. Möhringen bietet in solchen Fallen ungeahnte Chancen.
Wenn ich wütend bin, überlege ich mir zum Beispiel, was besser für diese Ecke der Stadt wäre: Mal ordentlich durchgentrifizert zu werden oder doch so ein G20-Gipfel. Und das alles nur, weil mir ein Furz quer hängt und die Wut irgendwo raus muss – und ich wohne nicht mal dort. Andererseits, richtig schlimm wird’s erst, wenn Matratzen Concord im Stadtteil die Filiale aufgibt und dafür ein Dänisches Bettenlager einzieht. Da wird die Bahn dann zum Geschenk des Himmels, so wie der Hafen in Hamburg. Man kann träumen oder halt ganz schnell weg.

Als ich endlich wieder in Fucking Heslach war, atmete ich tief durch. Ein wildfremdes Kind lächelte mich schief durch die Zahnlücken an, ein Typ sprach mit sich selbst, der Kerl aus dem Tabakladen grüßte freundlich und erkundigte sich, ob ich mit den Zigaretten aufgehört oder was ich sonst für eine Ausrede vorzubringen hätte, schon seit zwei Tagen nicht mehr bei ihm am Tresen gestanden zu haben.

Die Truppe vom Punkerladen schräg gegenüber war auch da – kurz abklatschen, Blödsinn reden, lachen. Ronny den Hund, hab ich auch gesehen. Er sagte aber lieber nichts. Der weiß genau, dass ich ihn auf dem Kieker habe, seit er mal meinem Hundemädchen so lange beim Spielen zugeguckt hat, bis sie erschöpft war – und dann versuchte, sie zu bumsen. Streng genommen wünsche ich mir ja, dass die Hündin glücklich und lesbisch ist. Ich kenne Väter, die ähnlich über die Zukunft ihrer Töchter denken.

Verzeihung, ich schweife ab. Der Mann am Tresen vom Yayla Kebab, der im Sommer immer sehr schwitzen muss, grüßte auch freundlich aus dem Laden heraus, fragte, was derzeit so anliegt und sprach dann die magischen Worte: „Halloumi, oder?“

, Ich: „Naguuut, Okeee.“

Zahnärztin durch die Fensterscheibe gegrüßt (hatte Feierabend), noch’n Ayran auf Ex weggepumpt, „Tschööö“ und „Dankeschön“ gesagt und dann ab nach Hause. Auf dem Zebrastreifen vor dem Haus hätte mich fast noch einer mit dem SUV Mittelklasse-Panzer überfahren, bremste aber noch rechtzeitig. Autos mit derartigen Ausmaßen vermitteln mitunter den Eindruck, man sei alleine auf der Welt.

Er: „Sooorrryyyy!“

Ich: „Passiert, kein Problem.“

Manchmal macht mich das alles so ekelhaft milde, dass ich vor lauter „Peace, Love & Understanding“ fast noch die verkackten Tauben an der Ecke zum Essen eingeladen hätte. Nix daran ist lustig, das wusste schon Elvis Costello. Doch wenn ein Tag so zu Ende geht, kann der Morgen gerne wieder kommen. Da ist schließlich eine Wahrheit, die es zu verteidigen gilt.

Und: „Öhm, Verzeihung. Sie haben da etwas Popel an der Nase hängen“

Foto: © Heiko Hermann

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