Plattform

PLATTFORM #88:
„Wer weiß, was kommt“
von Peter Buchholtz

Plattform wer weiß was kommt reflect Peter Buchholz Stuttgart

Stellt euch vor, in Stuttgart ist Frühling und keiner geht hin. Ob die Delfine bald wieder im Bärensee schwimmen? Wer in diesen Tagen entgegen aller Empfehlungen doch rausgeht, sieht mich vielleicht irgendwo auf einer Parkbank auf dem Schlossplatz sitzen. Mit einer Schachtel Pralinen auf dem Schoß.

Wenn ich meinen Text mit einem Zitat aus Forrest Gump beginne, merken dann alle, wie es schon nach zwei eingeschränkten Wochen um mich steht? Egal, für mich ist die Corona-Zeit die Zeit, in der dieses kaputt zitierte Zitat eigentlich wirklich das erste Mal so richtig zutrifft: „Life is like a box of chocolates, you never know what you’re going to get.” Ansonsten weiß man doch ab einem gewissen Alter schon meistens ganz gut, was als nächstes kommen wird. Schule halt, dann Ausbildung oder Studium. Familie gründen. SUV leasen. Faustkämpfe um Kita-Plätze. Und jetzt geht man in den Supermarkt und kann froh sein, wenn überhaupt noch Schokolade oder Pralinen da sind. Laktosefrei vielleicht. Alles andere wurde schon von den Achims und Annettes weggehamstert.

Wie geil sich in diesen Tagen doch dieser geile freie Markt selbst reguliert. Wie geil, dass Masken, Schutzanzüge und Desinfektionsmittel plötzlich das drei- bis zehnfache Kosten. Wie geil, dass sich die nicht richtig schützen können, die gerade sogenannten systemrelevanten Arbeiten nachgehen. Wie geil, dass ein 24-Jähriger dafür gefeiert wird, dass er auf die Panik spekuliert und sich mit FFP-Schutzmasken eingedeckt hat. Da geht vielen BWLern sicher einer ab, wie geil sich hier Angebot und Nachfrage gegenseitig regeln. Und wie geil auch, dass Milliardengewinne von Unternehmen selbstverständlich privatisiert werden, Verluste in Krisen wie dieser natürlich vergesellschaftlicht. Nicht nur unangenehmen Besserwissern wie mir sollte dabei auffallen, dass da was nicht stimmt.

Mir fällt auch auf in diesen Tagen, dass sich mit zunehmender Geschwindigkeit der Information zu diesem neuartigen Virus auch die Halbwertszeit der zugehörigen Witze sinkt. Wer möchte in zwei Wochen noch irgendeinen Klopapier-Späßchen lesen? Oder sich ein leeres Nudelregal auf Instagram anschauen? Corona macht auch keinen Halt vor alten und schwachen Witzen, merkt es euch.

Das Virus meint es aber nicht nur schlecht mit uns, man muss nur genau hinschauen: Froh bin ich, dass das unnötigste Fitnessgerät der Welt in allen deutschen Studios derzeit still steht: der Stairclimber. Wer ihn jemals benutzt hat, geht bitte für die nächsten vier Wochen ehrenamtlich Spargel ernten. Immer wenn ich an den Stairclimber denke, stelle ich mir vor, was wohl meine sportverrückten Verwandten aus dem Allgäu sagen würden, wenn sie mich auf so einem Ding sehen würden. Die Schmach wäre kaum auszudenken. Froh bin ich auch, dass Plätze endlich Plätze sein dürfen. Die Karlshöhe mal Karlshöhe, das Bärenschlössle mal Bärenschlössle – sowieso nicht nur überfüllt, sondern auch überbewertet. Die Stadt darf mal Stadt sein. Wenn selbst auf dem Schlossplatz an einem Samstagnachmittag keine Megafon-Promoaktion oder das SWR3-Sonstirgendwasfest stattfindet, dann weiß man, dass die Lage ernst ist.

Froh bin ich auch, dass wenigstens bei den Stuttgarter Behörden alles beim Alten ist: Führerscheinstelle und Ausländerbehörde sind nicht zu erreichen, antworten nicht auf Emails und schon gar nicht sollte man es wagen, dort ohne Termin aufzukreuzen. Man munkelt, einige Stuttgarter Behörden seien schon seit Jahren in Quarantäne – vorsorglich. Froh bin ich auch, dass sämtliche Influencer aus Dubai, Mexiko und Peru durch die selbstlose Rückholaktion des Auswärtigen Amts wieder sicher vor ihren Ikea-Regalen sitzen und jetzt hoffen, dass das Virus nicht die Klickfarmen in Bangladesh erreicht. Grüße gehen raus an Ina Aogo. Ich bin auch froh, über ein Jahr ohne Frühlingsfest. Und froh, dass alle Tequila Bars mal geschlossen haben. Schrauben wir nach Corona unsere Ansprüche beim Feiern eigentlich runter, weil wir froh sind, wenn irgendwas offen hat? Oder hoch, weil wir wieder gelernt haben, Dinge mehr wertzuschätzen? Unterstützen wir lokale Anbieter, weil wir merken, dass unser Freundeskreis und unsere Bekanntschaften bei diesen Einzelhändlern und in diesen Bars, Restaurants und Clubs arbeiten? Wird Deutschland endlich digital? Fragen wir uns auch nach Corona noch, ob Löhne für Pfleger*innen erhöht werden sollten, wählen wir vielleicht sogar danach? Oder ist uns das dann wieder egal? Wie schnell kippt das Leben wieder, und alles ist ganz wie davor? Und die banalsten Dinge erinnern uns wieder an die kaputt zitierte „box of chocolates”, ohne dass es uns peinlich ist.

Bleibt gesund!

© ANNA RUZA (Grafikerin & Illustratorin)
Nach dem Diplom in Kunsttherapie und einigen Jahren als Therapeutin genießt sie aktuell das Leben mit Mann und Mäusen vom schönen Stuttgarter Westen aus.

Das koennte dir gefallen…

1 Kommentar

  • Reply
    Studio Malo
    31. März 2020 at 17:31

    I guess I like what I read. Und ja, ich nehme auch Szenario 4:
    http://www.zukunftsinstitut.de/artikel/mit-den-megatrends-in-die-post-corona-zeit/

  • Schreibe einen Kommentar zu Studio Malo Cancel Reply