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0711 Game Changers: Horizontaler Gentransfer

Horizontaler Gentransfer

Stuttgart schläft nie – zumindest nicht, wenn es nach unseren 0711 Game Changers geht. Ob hinter den Decks, auf der Bühne oder mitten im Underground – die Menschen in diesem Format geben sich mit dem Status quo nicht zufrieden, sondern gestalten die Szene aktiv mit. Von DIY-Raves im Partykeller über eine TikTok-Karriere mit Ansage bis hin zu musikalischen Experimenten im Kunstmuseum – Techtation, Horizontaler Gentransfer und ildikó haben alle ihre ganz eigene Vorstellung davon, wie Stuttgart klingen sollte. Was sie antreibt, welche Orte sie geprägt haben und warum man ihre Namen auf dem Schirm haben sollte? Lest selbst:

Horizontaler Gentransfer

(aka Mizi Lee, Seonha Park, Yun Park, Jerry Ahn, Hanseo Oh & Lilian Gonzalez)

Horizontaler Gentransfer

Was war der entscheidende Moment, der eure Karriere verändert hat?
Seonha: Das waren zwei: das erste Konzert und jetzt das kommende Performance-Konzert im Kunstmuseum Stuttgart.
Mizi: Für mich war das erste Konzert auch sehr wichtig. Wir kannten uns erst seit einem Monat und hatten ungefähr dreimal richtig geprobt. Das Konzert war komplett DIY, wir hatten nicht mal eine:n Tontechniker:in und richtige Boxen, nur zwei Monitorboxen oder so. Trotzdem oder gerade deswegen war es echt geil, weil wir alle irgendwie gesagt haben „JA wir machen das” – keiner war so „ach ich weiß nicht …”, sondern alle hatten richtig Bock, was Verrücktes zu machen. Dann war für mich meine Diplomarbeit der andere entscheidende Punkt, dass wir da richtig professionell mit Licht-Tontechnik eine richtige Bühne aufgebaut haben. Da haben wir eigentlich fast ein Theaterstück gemacht und ich fand, das hat richtig gut funktioniert. Es war natürlich für mich sehr berührend, vom Publikum zu hören, dass sie fast geweint hätten.
Jerry: Für mich war unser allererstes Konzert direkt nach der Corona-Zeit ein entscheidender Moment – ebenso wie unser anstehender Auftritt im Kunstmuseum 2025. Nach der Pandemie hatten alle das Bedürfnis, sich auszudrücken, laut zu sein und etwas nachzuholen. Entsprechend groß war das Publikum, als wir unser erstes Konzert im Alten Schwede bei den Waggons gespielt haben. Da wir alle gerade erst die Lockdown-Zeit hinter uns hatten, konnten wir die Band mit einer gewissen Leichtigkeit gründen – ohne zu viele Zweifel oder Erwartungen. Es fühlte sich an, als wäre der Zeitpunkt genau richtig gewesen. Seitdem haben wir viele Konzerte gespielt und als Kollektiv unglaublich viel gelernt – auch voneinander. Und jetzt, mit unserem Konzert im Juni im Kunstmuseum, haben wir die Chance, all das zu zeigen, was wir gemeinsam aufgebaut und an Erfahrung gesammelt haben.

Wenn eure Karriere ein Film wäre, welchen Titel würdet ihr ihm geben?
Mizi: Ich würde es wie unsere Gruppe nennen: „Horizontaler Gentransfer”. Wir machen jetzt seit fast drei Jahren zusammen Musik und Kunst. Es ist sehr schön zu sehen, dass wir voneinander lernen und uns gegenseitig beeinflussen, was Kunstwerke und Ideen angeht. Außerdem finde ich, dass wir als Band unsere Energie auch in die Stuttgarter Szene transferieren.
Jerry: „Wir alle waren die Sonne.“

Wie bringt ihr frischen Wind in die Stuttgarter Szene?
Seonha: Wie? Wir machen einfach, was wir machen können oder wollen.

Was war der verrückteste Ort, an dem ihr je gearbeitet habt?
Seonha: Ohje, einen sehr schönen und einen richtig anstrengenden Ort habe ich im Kopf – beide waren verrückt. CSD 2023 in Stuttgart, wo wir im Wagen auf der Parade gespielt haben – finde ich immer noch so schön! Die Menschen waren einfach super aktiv und lieb. Die Energie, die wir gegeben haben und was wir bekommen haben, war unglaublich positiv. Und leider ein Konzert im Gramzow 2023: Ohje, das war ein witziger Albtraum. Da haben wir viel gelernt …

Was motiviert euch, immer wieder neue Wege zu gehen?
Jerry: Wut und Verzweiflung gegenüber der Politik und auch unserem Alltag.
Fraglichkeit der Identität. Und Träume von jedem, was wahnsinniger, witziger Wahn ist.
Mizi: Ich glaube, ich bin einfach ein sehr ungeduldiger Mensch, der Langeweile nicht ausstehen kann. Früher habe ich mich für mich geschämt, weil ich dachte, dass eine Künstlerin Langeweile und langatmige Kunstwerke gut vertragen sollte. Man sollte lange Texte lesen, lange Reden oder Führungen hören und drei Stunden in der Galerie sein oder so. Videokunst ist oft langatmig und dann auch noch schwarz-weiß … Ich fand das oft langweilig und fand mich komisch. Aber dann habe ich die Punk-Haltung kennengelernt und gemerkt, dass ich mich nicht an westlich kanonisierte Kunstformen anpassen muss. Ich bin im Korea der 90er-Jahre aufgewachsen, mit vielen Animes, Werbung und Popkultur. Für mich sind daher langatmige Bilder oder Videos oft langweilig und das ist ganz natürlich. Dann bin ich wieder bei meinem natürlichen Geschmack und lasse das auch in meine Kunstwerke einfließen. Für eurozentrische Augen ist es dann automatisch etwas Neues, aber für mich ist es eigentlich eine Rückkehr zum Gewohnten.

Welche Ideen möchtet ihr noch verwirklichen?
Jerry: Ich kann es nicht genau in Worte fassen, aber für mich ist es das Kunstwerk, das ganz ohne viele Worte, Erklärungen oder Materialien für sich selbst spricht – und dabei unsere Zeit und Kultur als Menschheit widerspiegelt.

Wer oder was inspiriert euch dazu, Game Changer zu sein?
Jerry: Verschiedene Versionen von mir selbst und meine Mutter.

Was war euer bisher größter Erfolg?
Jerry: Dass wir bisher zusammengearbeitet haben und voneinander gelernt haben.
Mizi: Ich stimme Jerry zu, der größte Erfolg für mich ist, dass wir uns gefunden haben. Es gibt nichts Besseres, als eine Band zu haben und es hilft mir sehr, um in dieser Welt zu überleben, dass wir zusammen Kunst und Musik machen.

Stellt euch vor, ihr könnt euch eine Stuttgarter Persönlichkeit zur Zusammenarbeit aussuchen – wer wäre das?
Jerry: Minister of Ausländerbehörde?

Wie wichtig ist euch die Vernetzung und Zusammenarbeit mit anderen Kreativen in Stuttgart?
Mizi: Sehr wichtig, sogar essenziell – ohne das Netzwerk und die Hilfe von anderen Leuten aus dem Netzwerk hätte es HGT gar nicht gegeben. Angefangen haben wir 2022 eigentlich im „Kaba-Klub”, wo ein paar Leute einfach jeden Freitag gejammt haben. Da hat uns Micha, der ein Studio hatte, den Raum und seine Instrumente zur Verfügung gestellt. Dann haben wir fast ein Jahr lang nur mit den Verstärkern und Kabeln der „Akademischen Betriebskapelle” Konzerte gespielt, weil wir kein Geld hatten. Wir bekommen von Musiker:innen aus dem Raum Stuttgart sowohl praktische als auch geistliche Hilfe und Unterstützung und es ist super wertvoll.

Welche lokalen Orte oder Events haben euch besonders geprägt?
Jerry: Schachtel! Die Schachtel ist ein traumhafter Konzert-Ort, wo man ohne Spannung Subkultur erleben kann.

Was macht Stuttgart für euch als Kreativschaffende besonders?
Mizi: Stuttgart ist eine ganz besondere Stadt. Das wusste ich nicht, als ich 2014 nach Stuttgart kam, um Kunst zu studieren. Ich kam einfach als Austauschstudentin hierher, weil meine Universität in Korea eine Partnerschaft mit der ABK hatte. Nach fast 10 Jahren merke ich, in was für einer besonderen Stadt ich bin. Brezelliebe, Kehrwoche, schwäbische Mentalität und Stuttgart 21. Die Stadt an sich ist auch sehr hässlich und weit entfernt von entspanntem Leben, man muss immer irgendwie gegen viele Hügel und konservative Mentalität kämpfen. Aber dafür hat man als Künstler:in in Stuttgart eine besondere Ausdauer und Beharrlichkeit. Man will auch den Newcomer:innen helfen und sie unterstützen, anstatt Gefühle von Konkurrenz zu wecken. Ich fühle mich in meiner Bubble eigentlich immer willkommen und setze meine authentische Identität gerne ein. Aber auch in anderen Zusammenhängen, wie in meinem Privatleben, zum Beispiel im Umgang mit meiner Schwiegerfamilie, spüre ich diese „schwäbische Mentalität” und die Angst vor dem Fremden hautnah. Das ist frustrierend, aber gleichzeitig ist dieser Alltagsrassismus ein guter Treibstoff für mein künstlerisches Schaffen. Gott sei Dank kommt meine Schwiegerfamilie von der Schwäbischen Alb.

Fotos/Orte

Kreativer Hotspot: Die Kunstakademie Stuttgart (der geheime Proberaum)

Kreativer Hotspot Horizontaler Gentransfer

Startpunkt: Die „Raumstation” in den Waggons Stuttgart: Die Band wurde hier gegründet und hat viel Unterstützung vom Team bekommen.

Kreativer Hotspot Horizontaler Gentransfer

Community-Treffpunkt: Unser Jubiläumskonzert in der neuen Schachtel am 26.05.2023.

Community Treffpunkt Kreativer Hotspot Horizontaler Gentransfer

Fotos 1&2: © Ilo toerkell
Foto: Kreativer Hotspot: © Maxim Schipko

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