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Plattform #96:
Martin Elbert „Die Stimmung ist mollig. D-mollig.“

Sie ist so derartig d-mollig, ich stelle mich auf die Straße und möchte direkt von einem Gorillas-Rider überfahren werden. Dann soll er mich am Boden liegend mit gut-und-günstig-Käse-Packungen vom Edeka bewerfen. Danach setzt er sich zu mir auf die Straße, wir beginnen gemeinsam zu frühstücken und deswegen bekommt irgendein Daimler-Bosch-Porsche-Pärchen in ihrer 2000-Euro-Kalt-Wohnung entgegen aller Gorillas-USPs und Baller-Claims („Mutter, der Mann mit den Cokes ist da“) maximal zu spät seinen Einkauf. Das gibt wieder richtig Ärger mit dem CEO und den Investoren.

Falsch, es gibt überhaupt keinen Ärger, weil wir MAMPFEN die Lieferung komplett und sehr gemütlich weg. Anschließend stellt der Gorillas-Fahrer (btw in Stuttgart noch nie eine Fahrerin gesehen) seinen schwarzen HOBEL neben 30 anderen erfrierenden E-Scootern ab, kündigt den Shitjob und startet sein eigenes Business. Vielleicht einen Concept Store (alias „Krustladen“) auf einem Lastenrad, z. B. mit Strick-Stirnbändern von diesem einen dänischen Designer, den überhaupt niemand kennt, oder Barista-Schürzen aus einer Manufaktur in Saragossa. Das wird jedenfalls alles mega für ihn. Wir stehen wieder von der Straße auf, umarmen uns sehr lange und wünschen uns alles Gute für 2022.

Ein klarer Sieg für den alles regelnden Markt und ein schlechter Tag für Ann-Sophie und Joel, die sehr lange und sehr sexlos auf ihren Einkauf gewartet haben, wiederum aber ein guter Tag für ihre Lieblings-Frühstücksgastro (Fritz, logo). Weil da ging es dann für beide hin, als klar wurde, der Gorillas-Fahrer kommt heute nicht mehr. Das ist wesentlich unkomplizierter, anstatt sich selbst durch das eklige Dickicht eines Supermarkt zu schlagen. Pärchen-Brunch-Stimmung in Stuggiboogiewoogiebenztownie, olé olé. Der etwas unerwartete Ausflug wird natürlich sofort in die gemeinsame Excel-Cloud-Tabelle ausgaben_gastro_lifestyle_sonstiges notiert, Joel zahlt aber heute mit seinem Krypto-Wallet. Lief gut diese Woche. What a time to be a coin.

Ich habe im Jahr 2021 erneut wieder sehr, sehr vieles nicht verstanden, gerade zum katastrophalen Ende hin, in dem man machtlos einer Minderheit als Horde an Internet-Professor*innen ausgeliefert war und ist. Was ich zwischendurch aber absolut überhaupt nicht verstanden habe, ist wie man es so brutal abfeiern kann, dass einem schlecht bezahlte, maximal unter Druck stehende Menschen auf einem schwerlich steuerbaren E-Bike innerhalb von ein paar Minuten ein bisschen Krimskrams („voll Bock auf `ne TOMATE JETZT!“) vorbei bringen, nur weil man selbst zu faul ist, in den naheliegenden Supermarkt zu rennen. OKAY JAAAAA, außer du bist halt in Quarantäne.

Aber so sind wir halt alle in irgendeinem, oder besser gesagt, oft in sehr vielen Punkten dumme Arschlöcher, inklusive mir natürlich, aber hallöchen, ich flieg Kurzstrecke von Feuerbach nach Hedelfingen und bau jährlich Gelbe-Sack-Berge in der Größe einer Kleinstadt wie RIN. Letztendlich steckt doch in fast jedem von uns, mindestens so ein bisschen ein kleiner FDPler, selbst wenn wir bequemen Freedom Lovers das nicht wahrhaben wollen, was eine sehr bittere Wahrheit ist, und wir ja eigentlich für Geschwindigkeitsbegrenzung auf den Autobahnen sind und Parklets sehr super finden.

Ich wundere mich immer noch, warum sich so viele gewundert haben, dass bei der Bundestagswahl unter den Erstwählern die FDP am besten abgeschnitten hat. Zwei Minuten Instagram und TikTok gucken und noch bissle Deutsch-Rap hören, sollten eigentlich zum besseres Feeling für eine komplett entfesselte Teil-Generation ausreichen. Keine Frage, mit 20 wäre ich auch schon gerne Millionär gewesen, so wie die heute, aber Mitte 1990 hätte ich einen Baufirma gründen, einen Mobilfunkanbieter ins Leben rufen, Amazon erfinden oder den Markt mit AOL-CDs bewerfen müssen.

War damals alles weit außerhalb meiner Vorstellungskraft (wie auch heute) und ich war sowieso lieber raven (immer noch). Außerdem gab es noch keine so klugen, spirituellen Insta-Captions, die mir den Weg gezeigt hätten („wenn du hinfällst …“), genauso wenig wie YouTube-Masterclasses, die einem erklären, dass man in einen Monat unfassbar reich wird. Und das OHNE DAFÜR ZU ARBEITEN.

Unglaublich einfach alles und man schwankt zwischen einer fatalistischen wie-schlimm-wird’s-noch-alles Jonathan-Frantzen-Klimawandel-Essay-Stimmung und einem regenbogigem Alles-wird-gut-Geträume, weil ja zwischenzeitlich doch zehn Leute mehr Fahrrad fahren. Ja, ganz so schlimm ist es dann doch nicht. Gott sei Dank gibt’s noch genügend Menschen – man sieht sie leider oft vor lauter Depperei nicht mehr – die für diese Gesellschaft in irgendeiner Form etwas Gutes tun. Engagiert, kämpferisch, selbstlos, mutig und vor allem nicht bequem.

Das ist jetzt ein ziemlich arg wie vom Balkon runter klatschen, ich weiß, aber: Danke an alle, die dieses Jahr wieder besser waren als die meisten von uns inklusive mir, und es auch nächstes Jahr wieder sein werden. Die Welt wird euch eines Tages Recht geben. Und wir anderen denken vielleicht über manches bis vieles einmal mehr nach. GaLieGrü und alles Gute für uns alle im Jahr 2022.

Text © Martin Elbert
Text & Musik • myspace-Weinkönigin 2006 • Orchideenzüchter des Jahres 1999 • Instagram-Topmodel • Instagram-Schönheit • Facility Manager @kesseltv • Nokia 8210

Illustration © Anna Ruza (Grafikerin & Illustratorin)
Nach dem Diplom in Kunsttherapie und einigen Jahren als Therapeutin genießt sie aktuell das Leben mit Mann und Mäusen vom schönen Stuttgarter Westen aus.

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