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PLATTFORM 0118: BRUDER, MUSS LOS.
VON ALEXANDER FÖLL AKA. SICKLESS

BRUDER, MUSS LOS. VON ALEXANDER FÖLL AKA. SICKLESS - re.flect Stuttgart

„Hallo? Ist hier noch jemand?“ – Nicht selten stößt mein virtuelles Ich beim Scrollen durch den Facebook-Newsfeed zuletzt auf diese Frage. Häufig wurde sie von meinen Kollegen aus der Musikbranche gestellt, die versuchten, rauszufinden, wo sich die virtuelle Zielgruppe denn gerade so wohl fühlt. Man will ja schließlich wissen, wo man sein Werbebudget verbrät. Die Ergebnisse waren meistens aber eher ernüchternd. „Nein, Bruder, mach mal lieber Instagram!“ wäre die Top-Antwort beim 100-Leute-haben-wir-gefragt-Spiel gewesen.

Irgendwie hat Facebook an Seele verloren. Anders als bei Kwick, studiVZ oder MySpace, deren Äras schlagartig, fast schon wie bei einem Flugzeugabsturz, beendet wurden, siecht Facebook eher langsam dahin und stirbt einen schleppenden und qualvollen Tod. Ab und zu kommt mal jemand am Krankenbett vorbei und bringt Rosen oder Pralinen in Form von Alibi-Geburtstagsglückwünschen, Ich-hab-wieder-mein-Handy-verloren-Posts oder Thesis-Fragebögen. „Kennt jemand jemanden, der jemanden kennt?“ – wir kennen da jemanden, ja, sind aber meist zu faul, um zu antworten.

Die globalen Nutzerzahlen bei Facebook zeichnen paradoxerweise ein völlig anderes Bild. Mit 2,1 Milliarden (!) monatlichen Nutzern und einer im Internetz bisher unvergleichlichen Wirkungsepoche von über einer Dekade, ist und bleibt die soziale Plattform vorerst die unangefochtene Nummer eins.

Das Problem ist aber ein anderes. Das Ziel von Facebook war es schon immer, die eierlegende Wollmilchsau zu sein. Man möchte Business und Freizeit gleichzeitig sein, Video-, Streaming- und Gamingplattform vereinen – es entwickelt sich stetig weiter, man will es allen recht machen. Ich warte nur darauf, bis man sein Profil mit einer Krypto-Währungs-Wallet verbinden kann. Kasten Bier an mich, sollte das in absehbarer Zeit passieren. Doch genau diese Wir-wollen-überall mitmischen-Einstellung macht Facebook mittlerweile so unsexy.

Ich weiß, generell ein Thema, das die Menschheit spaltet – aber kein Mensch lädt mehr Selfies oder Urlaubsbilder auf Facebook hoch. Dafür scheint Instagram viel intuitiver. Texten? Whatsapp. Warum kompliziert, wenn es einfach geht? Mit Kreti und Pleti auf Facebook verweilen? Dafür bin ich doch viel zu elitär. Nicht mal vor Tante Gerda und Onkel Helmut ist man bei Facebook mittlerweile sicher. Das haben auch die Kiddies und Jugendlichen geschnallt. Keiner möchte die letzte Ratte sein, die das sinkende Schiff verlässt. Das soziale Treiben ist weitergezogen.

Andererseits: Facebook erfüllt nach wie vor seinen Zweck. Wir nutzen es aus Bequemlichkeit noch immer als Veranstaltungsplaner, als Geburtstagsreminder, als Informations- und Meinungsbildungstool. Zumindest so gut es geht. Facebook ist sicherlich nicht blind und wird die Kuh solange melken wie möglich.

Bis dahin bleibt unser Newsfeed gefüllt mit allerlei Skurrilitäten und Fremdscham-Momenten. Faktastisch-Zitate. Hass. Wir-teilen-den-Lotto-Jackpot-mit-allen-die-kommentieren-Posts. Ohh, wie generös! Iphone- und Auto-Verlosungen von Restbeständen. Da simmer dabei! Fake-Pornoprofile, die immer geil und feucht sind, wobei mindestens ein Trottel aus meiner Freundesliste den Freundschaftsantrag bereits angenommen hat. Erwischt! Markiere-deinen-Freund-Videos-aber-sage-
ihm-nichts. Wie, nichts sagen? Was soll ich denn sagen? Hää? Ich-widerspreche-hiermit-gegen-die-neuen-Facebook-AGB- und Algorithmus-Posts. Merkt ihr eigentlich noch was?

Ich weiß, ich weiß. Du bist deines eigenen Glückes Schmied, was deinen Newsfeed betrifft. Der Satz „Facebook ist voll scheiße, da wird nur Müll gepostet“ wird somit leider zum Bumerang. Trotzdem gehört zur Hassliebe auch immer die Seite, die diese kranke Beziehung am Leben hält: Musikempfehlungen, Martin Sonneborn, DJ Emilios Lebensweißheiten und meine Lieblings-Prokrastination-Anlaufstellen „Theories of the Deep Understanding of Things“, „Katapult – Magazin“, „Classical Art Memes“ und „Worst of Chefkoch“.

In dem Sinne, viel Spaß beim zehnten Aktualisieren der Seite in zwölf Minuten oder in anderen Worten: Bruder muss los, ich geh Instagram.

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