Nach einem Jahr außerhalb Stuttgarts fällt einem schnell auf, was man an Stuttgart nicht vermisst hat. Da wird auch der „Schwabe“ mit Koblenzer Migrationshintergrund schnell mal zum Bruddler. Gut, dass es die Plattform von re.flect gibt.
Ein Dreizack spaltet derzeit die Stadt – oder zumindest dessen Internetgemeinde. Das Stadtmuseum – jetzt Stadtpalais – hat ein neues Logo, das erst einmal mit einem Erklärvideo erläutern werden muss. Von der AK am Killesberg hört man das Echo der zahllosen Facepalms der Kommunikationsdesigner noch jetzt durch den Kessel hallen. Die drei zackigen As sollen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Stadt stehen, die im Museum Platz finden. Aha, ein Museum, das sich mit Geschichte und Gegenwart beschäftigt, das kommt mir doch bekannt vor. Dabei hatten alle Stuttgarter doch schon sehnlichst auf ein Stadtmuseum hin gefiebert, dass sich mit der Blutorangenernte, Pi-Nachkommastellen und der Münchner Weißwurst auseinandersetzt. Klar ist, die Verantwortlichen hätten sich weniger als drei Zacken aus der Krone gebrochen, hätten sie die Bürger gefragt. Klar ist aber auch: Durch die CC-Blindkopie-Mühlen der Stadt hätte sich die Eröffnung auf mindestens 2020 verschoben.
Dass Zukunft und Gegenwart für manch einen Stuttgarter schnell verwischen, erkennt der aufmerksame Beobachter auch auf dem Wahrzeichen der Stadt: dem Mercedes-St… äh Fernsehturm. Dort sind an der Scheibe in dunklen Lettern Entfernungen zu bedeutungsvollen Städten wie Fulda und Kiel angegeben. Auch der drei Kilometer entfernte Hauptbahnhof ist markiert, und hat sich sogar einen kleinen Zusatz verdient. S21 steht dahinter in Klammern. Schön, dass auch denen geholfen wird, die auf dem Fernsehturm den Eingang zur S21-Baustellenführung suchen. Mindestens vier, eher sechs Jahre denkt man offensichtlich auch im Fernsehturm voraus. Wobei nicht sicher ist, wann der Kleber angebracht wurde. Eventuell war es aber die letzte Amtshandlung von Stefan Mappus höchstpersönlich, was auch die langwierige Erneuerung des Brandschutzes erklären würde. Man soll schließlich kein Fett ins Feuer gießen.
Auch auf die Hamburger Reeperbahn wird im Panoramacafé hingewiesen, im roten Hop-on Hop-off Bus von Stuttgart Tourist bleiben Hinweise auf florierendes Rotlichtgewerbe im Bohnenviertel dagegen verwehrt. Da ist von „Cafés und Boutiquen“ die Rede, nicht aber von 14 Bordellen und bordellartigen Betrieben, die der Nachbarschaft den zweiten inoffiziellen unschönen Namen geben: Nuttenviertel. Im Kinderkanal des Audioguides könnte man diese Notiz meinetwegen ausblenden – alle anderen verdienen aber die Wahrheit: In Stuttgart wird vor der eigenen Türe nicht nur gerne gekehrt, sondern auch gebumst. Und das, obwohl Stuttgarts größtes Unschuldslamm, der familienfreundliche Wellness-Puff-Opa Jürgen Rudloff in U-Haft sitzt. Hätte ich nie gedacht, dass der Dreck am Stecken hat.
Schmutzig wird es auch, arbeitet man sich Richtung Osten vor. Noch vor der dreckigsten Kreuzung Deutschlands kann man sich derzeit unterirdisch ein Bild von der unheimlichsten Stadtbahnstation Deutschlands machen. Wer an der Staatsgalerie aussteigt, um in die Staatsgalerie zu gehen, dem vergeht schnell die Lust. Ein bisschen Farbe, ein paar Bauzäune weniger, ein bisschen Müll aufsammeln – schon würde aus dem Gruselkabinett eine durchschnittlich versiffte U-Haltestelle werden. Oder ein bisschen Glas und Beton – wobei ein Dorotheen Quartier eigentlich auch genügt.
Dort sammeln sich seit geraumer Zeit wichtige Läden wie „Rich & Royal“ („Von Stuttgart für Stuttgart“) neben authentischer italienischer Küche („OhJulia,“) und die Hauptsache ist, dass in jedem Namen ein Komma, Kaufmanns-Und oder ein Deppen-Apostroph vorhanden ist. Nachts ist die Ecke – wer hätte das erwartet – genauso Tod wie die U-Staatsgalerie oder der Marktplatz nebenan.
Klar, wer viel bruddelt der übertreibt vielleicht auch gerne mal. Trotzdem kann ich auch am viel gelebten Stuttgarter Lokalpatriotismus nichts für mich abgewinnen. Denn auch wer 23 Mal am Tag die Worte „Mutterstadt“ und „Stuggi“ sagt, verhindert damit nicht die Zubetonierung des Abendlandes. Da muss sich jeder noch so große Lokalpatriot geschlagen geben. Deswegen sind nicht Breuninger, Mercedes und VfB meine Heimat, sondern der Ort, wo meine Leute sind.
Jeder Lokalpatriot ist am Ende des Tages, wie ein echter Patriot, eben auch nur ein Idiot. Ich könnte jetzt „isso“ sagen, aber dann würde ich mich fühlen wie Psaiko.Dino und das will ich nicht. Und wenn in Stuttgart eines Tages die zwölfte Mall und der fünfte Primark eröffnet haben, dann gehe ich einfach nach Berlin und mache dort einen Burgerladen auf. Ich habe gehört, da gibt es noch Bedarf. An Burgern und an „Schwaben“.
PETER BUCHHOLTZ
Wenn er nicht gerade für unsere Plattform die Stadt reflektiert, schreibt er für Stadtkind, die StZ / StN, seine Bachelorarbeit und bis vor kurzem für die Münchner Kollegen von der SZ.
Foto: © Bethany Louise Smith
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