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PLATTFORM #79:
„ALLES EINE FRAGE DER PRIORITÄTEN“
VON SARAH ZIMMERMANN

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Raus aus den Hotpants, rein ins Snuggie (eine Decke mit Ärmeln – und die wohl schönste Erfindung des amerikanischen Teleshoppings gleich nach dem Nicer Dicer): Der Herbst ist da!

Ein Jahreszeitenwechsel, der mich jedes Jahr aufs Neue überraschend unvorbereitet trifft. Während ich noch an die zehn paar Sandalen auszuführen hätte, die es aufgrund des wenig komfortablen, aber überaus hübschen Äußeren in den letzten Wochen nicht vor die Tür geschafft haben, ist es plötzlich ab 20 Uhr wieder dunkel und das einzig adäquate Schuhwerk sollte mindestens knöchelhoch sein. Vergeblich warte ich bisher auf die mir von diversen TV-Serien als selbstverständlich suggerierte Gelegenheit, mit all den fancy aber überaus unpraktischen Kleidungsstücken in meinem Schrank das Haus zu verlassen. Leider werde ich nur selten zum Etablissement der Wahl vorgefahren, um dort den ganzen Abend nur zu sitzen und dekorativ auszusehen. Man kann wohl nicht auf allen Hochzeiten tanzen.

Aktuell wird sogar das Übergangsjacken-Wetter galant übersprungen und man darf sich direkt in Winterkleidung in der Größe eines Hauses inklusive meterlangem Schal im Lenny-Kravitz-2012-Gedächtnis-Look einwickeln. Nichts geht über fashion sense. Und die endlose Schlange an der Clubgarderobe. Dagegen absolut zeitlos: Endlich wieder Lebkuchen im Büro futtern und bei Starbucks in Pumpkin Spiced Latte baden. Ohnehin das in meinen Augen einzig Gute an der kalten Jahreszeit – das kulinarische Angebot und überhaupt das Interesse, wieder etwas Anderes als Freibadpommes und Radler zu sich zu nehmen. Wo im Sommer nämlich schon so mancher Salat schwer im Magen liegt, darf in den nächsten Monaten wieder alles wahllos mit Käse überbacken, in Sahne ertränkt und im Ofen gebrutzelt werden. God save Hausmannskost und Kohlenhydrate. Summer bodies are made in winter, aber dicke Menschen sind schwerer zu kidnappen und man muss eben Prioritäten setzen.

Neben der heimischen Küche, dem favorisierten Lieferdienst und natürlich zahlreichen Food-Tempeln von Gourmet bis Imbiss kann man sich außerdem endlich wieder ruhigen Gewissens am Tresen niederlassen – wenn es draußen kalt und ungemütlich ist, erscheint die Lieblingsbar doch gleich viel attraktiver. Im Idealfall lässt sich sogar beides verbinden: Bars mit Nahrung in jeglicher Form sind ein absolut unterschätztes Konzept. Großen Dank deshalb an die neu eröffnete TinTin Bar, die ihre grandiosen Drinks um ebenso erstklassige Snacks ergänzt, das ohnehin zu jeder Jahreszeit famose Kap Tormentoso, wo auch zu später Stunde noch Champignonrahmsoße mit Spätzle (und ja, in genau der Reihenfolge, weil Soße auf jeden Fall > Nudeln) zum Drink gereicht werden und die wohl schönste Symbiose von Food and Beverage in Form von Wein und Käse in der Latteria am Marienplatz (eröffnet im November wieder, am besten schon mal im Kalender vormerken). Grundsätzlich würde ich auch die Einführung des italienischen Prinzips Aperitivo in der hiesigen Barkultur sehr begrüßen. So lange sich jedoch der Preis für ein Schälchen Oliven am Mietspiegel orientiert, sind meine Hoffnungen in der Hinsicht eher gering.

Eines Tages grüße ich von meiner Killesberg-Residenz und werde darüber lachen können. Bis dahin zelebriere ich meine innere Schwaben-Oma und lese mir als wohl einziger Mensch unter fünfzig die wöchentlichen Angebotsblättchen durch und google vor jeder Onlinebestellung Codes. Am meisten spart man nämlich beim Geldausgeben. Im Geheimen zumindest. Und das kann man dann sehr durchdacht und reif fürs Ausgehen ausgeben. Oder für Taxifahren, mein persönliches Lieblingskriterium, was die Ankunft im Erwachsenenleben angeht: Man verfügt über ausreichend finanzielle Ressourcen, um sich die Schmach der Nachtbusfahrt oder den leidigen Weg durch die Kälte zu ersparen – oder man zieht zumindest den maximalen Komfort trotz kleinem pekuniärem Spielraum vor und lebt den Rest des Monats in Angst vor dem Dispolimit. Letzten Endes auch nur eine Frage der persönlichen Prioritäten und ich für meinen Fall setze meine selbstverständlich nur nach bestem Gewissen und so, dass Peter Zwegat stolz auf mich sein könnte. Sagt das bitte auch meinen Eltern. Ich ruf mir dann mal ein Taxi.

Bild © www.benediktbanovic.com | 22 Jahre Climax Institutes

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