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Plattform #93: Kinder haben Angst vor Flugzeugen von Serkan Eren

Ich spreche oft von den zwei Welten, die mein Leben bestimmen. Da gibt es die eine Realität von mir, hier in Stuttgart. Dazu gehören der VfB, gutes Essen im Feinkostgeschäft meiner Freundin, witzige Sprüche im STELP-Team, der ein oder andere Gin Tonic, unsere schöne Wohnung im Stuttgarter Westen, die Zigarette zum Bier. Meine zweite Welt ist nicht in Stuttgart. In ihr werden hungernde Kinder in Krisengebieten zu Protagonisten. In ihr werden Menschen von Polizeihunden in Kroatien zerfleischt. In dieser Welt erlebe ich mit, wie Beirut vor meinen Augen in Schutt und Asche gelegt wird. Wie tote Körper auf der Straße liegen. Eine Welt voller Flüchtlingslager, in denen es keinen Strom und kein fließendes Wasser gibt. In Welt Nr. 2 gehört auch zu meinem Alltag, wie die griechische Küstenwache auf Menschen in Schlauchbooten einprügelt und wie die türkische Regierung Millionen Kinder, Frauen und Männer zum Spielball ihrer Außenpolitik macht.

Mieses Wetter in Stuttgart nervt. Kürzlich konnten wir bei einem Freund, der eine Wohnung in Halbhöhenlage hat, nicht auf die Dachterrasse, um bei einem kühlen Radler den Blick über die Stadt zu genießen. Ich hatte mich auf den Abend gefreut — in Welt Nr. 1. In Welt Nr. 2 bedeutet schlechtes Wetter im Schlamm versinkende Zeltstädte. Mütter mit Babys auf dem Arm im zugeschneiten Wald mit blau angelaufenen Lippen. Kleidung, die nie wirklich trocknet, sondern klamm an dünnen Körpern klebt. Unbehandelte Hautkrankheiten, die es eigentlich gar nicht mehr geben müsste. Erfrierende Menschen, für die der Tod manchmal die Erlösung ist.

In Stuttgart höre ich manchmal, dass ich ein Held bin, weil ich in den Nahen Osten fliege, um Menschen in Not zu helfen. Im Nahen Osten lerne ich wahrhaftige Helden wie Nael kennen. Und Menschen, die in ein Viertel in Idlib rennen, um Verletzte zu retten, obwohl sie wissen, dass mehr als 80 Prozent nicht lebend wieder rauskommen. In welcher Realität man auf die Welt kommt, darüber entscheidet das Los der Geburtslotterie. Ich jedenfalls habe vor meiner Geburt keinen Test bestanden, der mich dazu qualifiziert hat, im Schwarzwald auf die Welt zu kommen. Nael hat auch keine Prüfung absolviert, dessen Ergebnis ihn bestrafen hätte sollen. Es war wohl einfach nur Zufall, dass ich auf einem Junggesellenabschied auf Ibiza war, während er im gleichen Moment von Soldaten angeschossen wurde und danach viele Monate in einem Foltergefängnis verbringen musste. Ich hatte Glück, er hatte eben Pech. Ich habe gewonnen, er hat verloren. Das ist alles.

Tatsache ist: Nael ist fleißiger, intelligenter und mutiger als ich. Er hätte auch ein Leben verdient wie ich es geführt habe. Aber irgendjemand — Gott, die Natur oder sonst eine Macht, wer weiß das schon — wollte, dass es so kommt und wir in diese sehr unterschiedlichen Welten geboren werden. Eines weiß ich aber mit Sicherheit: Es ist unsere Aufgabe diese Ungerechtigkeit zu bekämpfen! Und die Folgen davon abzumildern.

Einige in Welt Nr. 1 werden nun vermutlich aufschreien, sagen, dass sie doch so und so lang studiert und viel Energie aufgebracht haben, um das Leben führen zu dürfen, das sie führen. Der Unterschied zu dem 12-jährigen Jungen im Norden vom Libanon, der mich bittet, ihn nach Deutschland mitzunehmen, ist der, dass er wohl nie eine faire Chance bekommen wird.

Ich bin am Stuttgarter Flughafen, Check-in Schalter, zwei Stunden vor Abflug. Ziel ist die türkisch-syrische Grenze. Der Flug hat Verspätung. Ich gehe auf die Terrasse und sehe einen Vater, wie er seinem Sohn die startenden Flugzeuge zeigt. Flugzeuge faszinieren kleine Kinder. Beide lachen, beide sind glücklich. Zwölf Stunden später stehe ich mitten im Flüchtlingslager. Ein Vater hat seinen Sohn auf dem Arm. Plötzlich höre ich ein Flugzeug am Himmel. Reflexartig geraten die beiden in Panik und rennen los. Sie leben in meiner zweiten Welt. Kinder haben Angst vor Flugzeugen.

Serkan Eren

Text © Serkan Eren

Gründer und Geschäftsführer der Stuttgarter Hilfsorganisation STELP

Foto © Steffen Makai

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