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Plattform: Atahan Demirel

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Atahan Demirel ist Teil der queeren Community in seiner Heimatstadt Stuttgart, über die er dieses Mal in unserer Plattform schreibt. Als queerpolitischer Sprecher der Grünen Stuttgart und Vorstandsmitglied bei der Aidshilfe BW setzt sich der 29-Jährige für eine inklusive Gesellschaft ein.
 
Was also beschäftigt queere Menschen in Stuttgart?
 
Leere Clubs, keine größeren Veranstaltungen und weniger Leute am Wochenende in der Innenstadt. So sah die Realität der Stuttgarter*innen wegen der Corona-Situation in der letzten Zeit aus. Sie musste so aussehen, denn Gesundheit geht vor. Nichtsdestotrotz waren das schwierige Zeiten, insbesondere für queere Menschen. Natürlich nicht jedes Mitglied, doch ein Großteil der queeren Community trifft sich nämlich nachts in Bars, Clubs und Restaurants. Auch Reiseführer nennen üblicherweise Etablissements, die am Abend oder in der Nacht besucht werden, wenn sie queere Orte in Stuttgart vorstellen. Meistens können sich queere Menschen da freier entfalten. Freunde und ich sind zum Beispiel als Draqqueens auf eine Party gegangen – tagsüber hätten wir das nie gemacht.
 
Doch wo verweilen denn Menschen der LSBTTIQ-Community in Stuttgart tagsüber? Natürlich partizipieren sie genauso wie alle anderen Menschen am sogenannten herkömmlichen Alltag. Unter anderem spazieren sie also am mittleren Schlossgarten, flanieren durch die Königsstraße oder treiben Sport im Fitnessstudio. Allerdings nicht immer so, wie sie das gerne tun würden. Ein gleichgeschlechtliches Paar wird es sich zweimal überlegen, ob es händchenhaltend durch die Straßen geht. Es besteht nämlich die Gefahr mit seltsamen Blicken und blöden Sprüchen konfrontiert zu sein. Auch ich würde auf einer stark frequentierten Straße nicht Händchen haltend gehen, viel zu groß wäre die Befürchtung vor einer feindseligen Konfrontation.
 
In Wirklichkeit bedarf es an Orten, an denen queere Menschen auch tagsüber verweilen können, ohne Verurteilung und Ausgrenzung befürchten zu müssen. Gerechterweise sollte betont werden, dass die Landeshauptstadt grundsätzlich bunt ist und vieles zu bieten hat. Doch ein inklusives Regenbogenhaus mit ausreichend hohen finanziellen Mitteln wäre schon auch eine gute Sache. Ein Ort also, bei dem die queere Community mit den verschiedenen Mitgliedern in Sicherheit interagieren kann.
 
Queere Begegnungen und Treffpunkte befinden sich normalerweise in urbanen Räumen, weshalb Personen der Community häufig von ländlichen Gebieten nach Stuttgart ziehen. Das hat auch damit zu tun, dass die Wahrscheinlichkeit sich mit Gleichgesinnten zu vernetzen in der Stadt höher ist, als auf dem Land. Vor diesem Hintergrund leiden insbesondere queere Menschen unter den hohen Mieten in Stuttgart. Dieser Mietenwahn drängt sie an den Rand der Stadt, wo es noch einigermaßen erschwingliche Wohnungen gibt. Dazu kommt die Tatsache, dass das Steuersystem die Lebensrealitäten von queeren Menschen nicht berücksichtigt. Das sogenannte Ehegattensplitting stellt einen Steuervorteil von verheirateten Paaren gegenüber unverheirateten Paaren dar. Tendenziell sind queere Menschen seltener verheiratet oder in einer Lebenspartnerschaft. So gut wie alle meiner queeren Freunde beispielsweise sind nicht verheiratet, auch wenn sie sich in einer langjährigen Partnerschaft befinden. Eine Heirat passt nicht in ihr Credo.
Natürlich betreffen das Ehegattensplitting und der Mietenwahn nicht nur queere Personen, jedoch leiden diese im Grunde überproportional darunter. Es gibt zwar Bemühungen die Mietpreise zu reduzieren oder auch eine bessere Lösung als das Ehegattensplitting zu finden, doch dabei sollten auch die Lebensrealitäten von queeren Menschen beachtet und berücksichtigt werden.
 
Das gilt auch für viele weitere Sachstände. Immer wieder finden queere Welten in der Politik, Wirtschaft und Gesellschaft keine ausreichende Berücksichtigung.
Vor diesem Hintergrund wäre es beispielsweise ein schönes Zeichen, wenn die Stuttgarter Stadtverwaltung Druck bei einigen Partnerstädten ausüben würde, in denen queere Menschen systematisch diskriminiert werden. Einige der Partnerstädte befinden sich in Ländern wie Ägypten, Tunesien, Polen oder Indien, wo queere Personen unterdrückt und schikaniert werden. In Ägypten wurden vor nicht allzu langer Zeit Personen aus der LSBTTIQ-Community wegen ihrer sexuellen Orientierung gefoltert und misshandelt. Vor ein paar Jahren wurde in Polen mehrere Gebiete als LGBT-freie Zonen deklariert, was eine umfangreiche Diskriminierung bezeugt. Es ist schon klar, dass beispielsweise die Beendigung einer Städtepartnerschaft die Queerfeindlichkeit in einem ganzen Land höchstwahrscheinlich nicht beseitigt. Doch es wäre für die hiesige Bevölkerung ein Zeichen von Beachtung und Solidarität.
 
Demirel
 
Text © Atahan Demirel
Illustration © Anna Ruza (Grafikerin & Illustratorin)

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