Stuttgart Hilft

Ein Jahr nach der Explosion:
STELP e.V. vor Ort in Beirut

STELP

STELP e.V. ist eine zivile Hilfsorganisation aus Stuttgart, in der sich Ehrenamtliche, Partner:innen und Sponsor:innen gemeinsam engagieren. Das Team unterstützt weltweit mit verschiedenen Hilfsprojekten da, wo dringend Hilfe benötigt wird. Aktuell befindet sich Vereinsgründer Serkan Eren gemeinsam mit Schauspieler Ben Dahlhaus in Beirut. Von dort aus berichten sie von ihren Erfahrungen vor Ort:

„Donnerstag Abend in Beirut. Ben Dahlhaus und ich sind seit fast einer Woche vor Ort im Einsatz. Wir treffen Melissa Fathalla, Aktivistin und Co-Founderin einer lokalen Hilfsorganisation. Ich frage sie: „Was denkst du, was wird am Jahrestag der Explosion hier in der Stadt passieren?“ Sie schaut mich an, ihr Blick bestimmt. „Wir werden ihnen zeigen, dass es nun endgültig reicht.“ „Hast du keine Angst?“, frage ich. „Die Mauer der Angst ist schon lange eingestürzt. Es gibt nichts mehr, wovor wir Angst haben könnten”, erwidert sie. „Die Leute haben Hunger, man hat unsere Stadt in die Luft gejagt, man hat unsere Kinder getötet, sie haben uns die Hoffnung genommen. Ich frage dich, Serkan, mit was möchte man uns noch drohen? Wovor sollen wir denn noch Angst haben?“

Eigentlich könnte ich jetzt aufhören, zu schreiben. Es ist alles gesagt. Eine perfekte Zusammenfassung der Situation hier, in der Hauptstadt des Libanons, wo ich seit meiner Ankunft von einer Sprachlosigkeit in die andere falle, gezogen werde. Immer wenn ich denke, es kann nicht noch schlimmer kommen, dann werde ich eines Besseren belehrt. Alles hier ist einfach nur absurd.

Der Libanon durchlebt aktuell die weltweit drittgrößte Wirtschaftskrise der letzten 150 Jahre. Die libanesische Lira hat über 90 Prozent an Wert verloren. Die Preise von Alltagsprodukten sind in kürzester Zeit um ein Vielfaches gestiegen. Es ist so, als ob in Deutschland ein einfaches Frühstück mit einer Scheibe Brot und einem Stückchen Käse plötzlich über 30 Euro kosten würde. Man wartet hier teilweise über zwei Stunden an der Tankstelle, um an ein paar Liter Benzin zu kommen. Die Ampelanlagen und Straßenbeleuchtungen funktionieren schon lange nicht mehr, schwere Verkehrsunfälle sind die Folgen, Strom gibt es tagsüber nur für wenige Stunden. Während ich versuche, meine Gedanken auf Papier zu bringen, zähle ich bereits drei Stromausfälle.

Die Wetter-App zeigt 34 Grad an. Durch die Wärme, die tausende Generatoren und Klimaanlagen verursachen, fühlen sich die allerdings eher an wie 45 Grad. Es ist unerträglich, jede Bewegung führt dazu, dass die Kleidung durchnässt am Körper klebt. Familien, die keine Klimaanlage besitzen, schlafen auf ihren Dächern. Den Dieselgeruch, den die Generatoren rausblasen, nimmt man in der gesamten Stadt wahr. Die Hitze macht müde, der Gestank betäubt die Sinne. Irgendwie schreit der Körper nach Resignation. Zu heftig sind die Eindrücke, die hier jeden Tag auf einen einprasseln. Man kann einfach nicht begreifen, mit welcher Realität die Menschen hier leben müssen, seit Langem bereits, aber noch einschneidender seit Kurzem.

Der junge Mann, der im Ausland studieren wollte und für diesen Traum bereits mit zwölf Jahren angefangen hatte, Geld zu sparen, hat die meisten Jahre umsonst gearbeitet. Gleichzeitig bildet sich vor dem Louis-Vuitton-Geschäft eine lange Schlange. Die ehemalige Mittelschicht kauft sich vom letzten Bargeld eine neue Handtasche – als stabile Wertanlage, nicht als neues Accessoire, wohlgemerkt. Die Krankenhäuser nehmen längst keine Notfälle mehr auf, denn der Notstrom reicht gerade mal für die bereits belegten Betten auf den Intensivstationen. Es gibt kaum Schmerzmittel und Antibiotika. In den sozialen Medien suchen Einheimische nach Reisenden, die planen, in den Libanon zu kommen. Ein verzweifelter Versuch, dringend benötigte Güter ins Land zu bringen. Die extreme Inflation sorgt dafür, dass das Leben für einen großen Teil der Bevölkerung zum Überlebenskampf geworden ist. Viele geben auf. Eine erschreckend hohe Anzahl an Selbstmorden gehört mittlerweile zum Alltag.

Schwacher Puls – aber Beirutis geben nicht auf!

Viele, die eine Chance haben, das Land zu verlassen, tun es. Die, die bleiben, sind vor allem arme Menschen, Extremisten oder Geflüchtete. Ein weiterer gefallener Staat in der Region, könnte man sagen. Ich bitte euch von Herzen: Sagt das nicht! Es ist der Libanon. Das Land, das mal die „Schweiz des Nahen Ostens“ genannt wurde. Wir reden von Beirut, das sich mit dem Beinamen „Paris am Mittelmeer“ schmücken durfte. Es geht um den einstigen Leuchtturm der Freiheit. Eine Hauptstadt, die noch immer mit den Partys und DJs in Berlin, mit den schicksten Clubs in den Vereinigten Staaten und mit den Medizinern in der Schweiz mithalten kann. Ein Land, in dem die Menschen besser Englisch sprechen als in Deutschland. Eine Region mit einer unfassbar kreativen und künstlerisch begabten Jugend, was sich in der Street Art genauso widerspiegelt wie in den großen Galerien weltweit. Im Ausgehviertel Gemmayzeh hört man elektronischen Sound und amerikanischen HipHop, man bekommt die besten Drinks und von alternativ bis High Class kommt hier jede:r auf seine/ihre Kosten.

Und doch: Das Licht des Leuchtturms nimmt an Strahlkraft ab. Rapide. „Es ist ein wenig so wie mit dem Frosch im Topf, dessen Wasser man langsam erhitzt“, sagt ein befreundeter Fotograf. „Man hat sich viel zu lange viel zu viel gefallen lassen. Niemand hier hätte sich in kochendes Wasser werfen lassen. Aber so, wie es ist, sterben wir eben langsam.“

Viel schlimmer kann es nicht kommen, haben sich viele Libanes:innen gedacht. Dann kam Covid, ein weiterer, harter Tiefschlag für ein Land, das bereits in einer fürchterlichen Verfassung war. Hilfszahlungen aus dem Ausland, mit denen man eigentlich hätte rechnen können, werden aufgrund der korrupten Politik im Land nicht überwiesen. Die einzige Hilfe, die geleistet wird, kommt von Nichtregierungsorganisationen. Aber das, was wir und viele andere hier leisten, fühlt sich an wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.

Der Puls des Landes schlägt immer seltener und leiser. Schon letztes Jahr war er kaum noch zu spüren. Und als ob das nicht gereicht hätte, passierte das Unfassbare. Und während ich diesen Satz in die Tastatur tippe, habe ich sofort wieder einen Kloß im Hals. Ich bin nicht der Einzige, der die Nacht der Explosion im August letzten Jahres als die mit Abstand schlimmste Nacht seines Lebens bezeichnet. Selbst Beiruti, die den jahrelangen Bürgerkrieg in den Achtzigern erlebt haben, sprechen von einem nicht für möglich gehaltenen Trauma. 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat, gelagert im Herzen der Stadt, direkt am Hafen, führte zur drittgrößten, nicht nuklearen Explosion in der Geschichte der Menschheit. Die apokalyptischen Szenen, die sich in mein Gedächtnis gebrannt haben, die Wut in mir, das Ausmaß an Unfähigkeit, Dummheit und Gleichgültigkeit der Verantwortlichen – all das kann man nicht in Worte fassen.

Auf eine Sache hatte sich die libanesische Regierung allerdings bereits vor Jahren vorbereitet: eine eventuelle Hungersnot. Man hat unzählige Tonnen Getreide in 50 Meter hohen Silos gelagert. Dass der Super-GAU nur wenige Meter neben diesem Speicher stattfindet und auch diese Reserven nun verloren sind, ist nur ein weiterer unfassbar tragischer Akt in der Geschichte dieses Landes. Würde ich an so etwas glauben, ich müsste es „Fluch“ nennen.

Und dennoch gibt es in all dieser Verzweiflung noch Beiruti wie Jad, der einen großen Schluck Arak trinkt und fragt: „Weißt du was fürchterlich ist, Habibi?“ Und ich frage mich, mit welcher Horrorgeschichte er mich nun wieder konfrontieren wird. „Wenn du Musik über das Handy hörst und mitsingst, du eine WhatsApp erhältst, deshalb die Musik kurz ausgeht und du dich plötzlich selbst singen hörst.“ Wir lachen laut. Es könnte die Welt um sie brennen, sie würden dich fragen, ob du einen Tee möchtest. Vielen Dank, Beiruti. Vielen Dank, für das, was ihr seid.“

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