In unserer neuesten Ausgabe von „This is Art“ dürfen wir dieses Mal einen Blick hinter die Kulissen des Studios Vierkant werfen. Im multidisziplinären Designstudio mit Standorten in Stuttgart und Hamburg verschmelzen Design, Kunst, Graffiti und Fassadengestaltung auf ganz besondere Weise miteinander. Gegründet von Philipp Becker (F), Jan Ducks (JD) und Georg Waibel (GG) und seit 2023 verstärkt durch den Hamburger Michel Balke (M), hat sich das Team mit besonderen, kreativen Projekten einen Namen gemacht. Willkommen im Studio Vierkant!
Wie kamt ihr zur Kunst/Streetart?
GG: Als Kind habe ich mit meinem Papa viel gezeichnet: Dinosaurier, Piraten und solche Sachen. Irgendwann sind mir dann die Graffiti entlang der Autobahn aufgefallen und dann verrutschte der Fokus eher hin zu den Buchstaben.
M: Die Pflegekinder unserer Familie hatten immer so komische Ausmalbücher, die ich – vermutlich aus Neid – mit dicken Eddings verunstaltete.
F: Bei mir passierte es auf dem Weg zum Zahnarzt, als mir entlang der Bundesstraße die silbernen Bilder auffielen. Infolgedessen tat ich es meinem Bruder gleich und fing mit dem Sprühen an.
L: Ich sah die bunten Bilder auf dem Weg zur Schule. Dann habe ich sie auf meinen Fingerboard-Rampen nachgemalt – eigentlich ohne zu wissen, dass es sich dabei überhaupt um Buchstaben handelte.
JD: Ich kam dazu, weil ich Graffiti geil fand!
Worauf möchtet ihr aufmerksam machen?
Das kann total unterschiedlich sein. In manchen Wandarbeiten bietet es sich für uns an, einen Kontext herzustellen, bestimmte Themen aufzugreifen und etwas abstrakt oder konkret zu thematisieren. Bei der Gestaltung der Lorenzstaffel haben wir beispielsweise eine Art digitale Wetterkarte umgesetzt, welche die steigenden Temperaturen im Besonderen und den Klimawandel im Allgemeinen thematisiert. Ansonsten macht es uns Spaß, simple Messages ohne besonders tiefgründigen Inhalt bold zu spielen, wie beispielsweise bei unseren Arbeiten „NO DAY WITHOUT SPRAY“, „TOO BLESSED TO BE STRESSED“ oder „JUST SOME FRIENDS WHO WANNA PAINT“. In anderen Formaten können wir umfassender in spezielle Themen einsteigen. Bei unseren Buchprojekten, die wir bei Studio Vierkant Press herausgeben, werden Arbeiten anderer Künstler und Künstlerinnen beleuchtet. Im Rahmen des PFFFestivals erscheint jährlich ein Magazin für Graffiti, Kunst und Kultur. Hier haben wir die Möglichkeit, mit Texten verschiedener Autor:innen auch komplexe Themengebiete zu bearbeiten. So entstanden in der letzten Ausgabe beispielsweise ein Interview mit der Letzten Generation über das Markieren von Orten und verschiedene Artikel über das Thema Nachhaltigkeit im Graffitikontext. Mit der Ausstellung »Graffiti im Kessel« im Jahr 2020 konnten wir die Stuttgarter Graffiti-Geschichte auf Wänden in einem musealen Rahmen aufarbeiten und durch zahlreiche Bilder, Videos, Installationen sowie begleitenden Informationen auch Menschen außerhalb der Graffiti Bubble zugänglich machen.
Wie denkt ihr über die öffentliche Wahrnehmung von Graffiti/Streetart und wie versucht ihr, diese durch eure Arbeit zu beeinflussen?
Damit wir diese Frage beantworten können, muss man den Begriff „Graffiti“ mit den zahlreichen weiteren Formen der Gestaltung von öffentlichen Räumen abgrenzen. Die Kriminologin Friederike Häuser unterscheidet dabei recht treffend Graffiti, Street Art, Urban Art, Auftragsgraffiti, Murals sowie Werbung mit Sprühdose. Wir beobachten auch, dass diese Begriffe oft vermischt werden und gleichzeitig viele Leute die Qualität einer Bemalung nur daran festmachen, ob es legal oder illegal entstanden ist. Das ist in unseren Augen Quatsch, da es sowohl gute legale Arbeiten sowie nicht genehmigtes Graffiti gibt, genauso wie total hässliche Auftragsarbeiten und illegale Graffiti. Viele Besitzer:innen von Wandflächen gehen davon aus, dass mit einer beauftragten Wandgestaltung unkontrolliertes Malen eingedämmt wird. Das kann so sein, muss es aber nicht. Der „Kodex“ unter Sprüher:innen basiert auf gegenseitigem Respekt. Sobald eine Auftragsarbeit schon bestehende, illegal angebrachte Bilder übermalt, kann dieser Auftrag logischerweise zum Ziel der Sprüher*innen werden, die diese Fläche vorher gestaltet haben. Zu unserem Verständnis gehört es, bestimmte Auftragsarbeiten abzulehnen, die unter das Konzept „Graffiti gegen Graffiti“ fallen, wenn wir der Meinung sind, dass unsere Arbeit nur passiert, um eine legale Bemalung gegen illegales Graffiti auszuspielen. Wir persönlich vertreten die Meinung, dass auch illegal gesprühte Graffiti eine Berechtigung im öffentlichen Raum haben und nicht weniger legitim sein sollten als beispielsweise kommerzielle Werbung, die man – ob man möchte oder nicht – ebenfalls überall in den Straßen sieht. Positiv lässt sich jedoch feststellen, dass die Leute, die in Entscheidungsämtern sitzen, immer jünger werden und – im Vergleich zu ihren älteren Kolleg:innen – schon mit omnipräsentem Graffiti aufgewachsen sind. Daher werden Berührungsängste mit der Thematik gefühlt immer weniger.
Woher nehmt ihr eure Inspiration und Ideen?
Wir bewegen uns ja alle in gewisser Weise in der Graffiti-Bubble. Unser Instagram-Algorithmus enttäuscht uns in dieser Hinsicht nicht und setzt uns ein Graffitibild nach dem nächsten vor. Darüber hinaus haben wir einen Background im Grafikdesign und schön gestaltete Bücher sind ebenfalls eine regelmäßige Inspirationsquelle. Ansonsten kommen bei jedem Einzelnen von uns noch die verschiedensten Einflüsse individuell dazu, seien es irgendwelche Comics, spezielle Bereiche der bildenden Kunst, Kinderzeichnungen, Aspekte aus der Werbung oder sonstige Dinge aus dem Daily Life.
Könnt ihr uns einen Einblick in euren kreativen Prozess geben?
Das ist immer davon abhängig, um was für einen Auftrag oder eine Bemalung es sich handelt. Wir haben zum einen Jobs, da gibt es ganz konkrete inhaltliche Vorgaben. In diesen Fällen schauen wir, wer aus unserem Team da stilistisch am besten geeignet ist, um die Skizze zu machen und die Anforderungen zu erfüllen. Für jede Stilrichtung haben wir quasi jemanden, der da der Spezialist ist. Wenn wir denken, dass jemand ganz anderes dafür besser geeignet ist als wir selbst, dann greifen wir auf unser Netzwerk zurück und holen noch jemanden Externes mit ins Boot. Bei manchen Projekten kommen wir in den Genuss von komplett freien Arbeiten. Das sind natürlich die Sachen, die uns am meisten Spaß machen und bei denen, unserer Meinung nach, auch die coolsten Arbeiten entstehen. Das fängt bei Wandbemalungen an, geht bei unserer kleinen Klamottenkollektion weiter und endet in Buchprojekten oder Kunstdrucken, die wir einfach aus Spaß an der Sache machen oder weil jemand irgendeine (Schnaps)-Idee hat. Sei es für kommerzielle Projekte oder für freie Arbeiten: Wir wissen es sehr zu schätzen, dass wir in einem kleinen, familiären Rahmen zusammensitzen und uns auf kürzestem Dienstweg über die Schulter schauen (lassen) können und somit ständig Feedback aus verschiedenen Blickwinkeln erhalten.
Mit welchem Satz würdet ihr eure Arbeit beschreiben?
Design mit Streetcredibility und Graffiti mit Konzept.
Habt ihr bestimmte Ziele oder Projekte, an denen ihr in Zukunft arbeiten möchtet?
Unser Herzensprojekt ist das PFFFestival für urbane Kunst in Stuttgart. Das haben wir vor ein paar Jahren initiiert und es geht 2024 mittlerweile in die dritte Runde. Jedes Jahr werden von international renommierten Künstlern und Künstlerinnen großflächige Murals im gesamten Stadtgebiet gestaltet. Das PFFFestival hat sich dabei zum Ziel gesetzt, relevante und zeitgenössische künstlerische Positionen aus dem Bereich der urbanen Künste in die Stadt zu tragen. Unsere kuratorische Planung zielt darauf ab, langfristig eine große Bandbreite an unterschiedlichen Stilrichtungen abzudecken. Wir freuen uns, dass wir im Rahmen des „Kunst im öffentlichen Raum“-Programms (KiöR) mit Support der engagierten Mitarbeitenden des Kulturamts einen Teil dazu beitragen können, dass Stuttgart ein bisschen bunter wird und sind gespannt auf die Arbeiten, die in den nächsten Jahren in diesem Rahmen noch entstehen werden. Ein Wunschprojekt der etwas unkonventionelleren Sorte liegt bei uns schon länger in der Schublade. Hierfür benötigen wir lediglich einen Hektar Wiese, ca. 250 kg Blumen sowie ein wenig Vertrauen in unsere Kreativität. Wer davon etwas übrig hat, darf sich gerne bei uns melden! Darüber hinaus haben wir sowohl als Team als auch jeder individuell für sich einiges an Ideen für interessante Projekte. Ein großes Ziel für uns ist, dass wir uns selbst mehr Zeit für unsere eigenen Vorhaben und freien Arbeiten einräumen. Wobei das – wenn wir auf unseren Terminkalender für das restliche Jahr schauen – vermutlich erstmal nicht so einfach umzusetzen sein wird.
Habt ihr einen Wunsch für die Kunst- bzw. Graffitiszene in Stuttgart?
Eine Zwischennutzung in einem coolen Areal mit viel Platz, Hebebühnen und jeder Menge Sprühdosen zum Austoben wäre mal wieder nett! Für die allgemeine Kunst- und Kulturszene in Stuttgart wünschen wir uns, dass aus der Politik Mittel bereitgestellt werden, um noch mehr Plätze zu schaffen, wo Kunstschaffende Kunst schaffen können. Außerdem hoffen wir, dass das „KiöR“-Programm auch über das Jahr 2025 hinaus bestehen bleibt und noch weiter ausgebaut wird.
Wenn ihr nicht gerade im Studio seid – wo trifft man euch?
Mit den Kindern auf dem Spielplatz, mit den Kumpels in der Hotelbar, mit der Freundin in einer Ausstellung oder alleine in irgendeiner Brücke.
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