Interview

Interview mit Patrick Münz von STELP: „Man weiß, dass das, was man macht, richtig ist“

STELP

STELP e.V. ist eine zivile Hilfsorganisation aus Stuttgart, in der sich Ehrenamtliche, Partner:innen und Sponsor:innen gemeinsam engagieren. Das Team unterstützt weltweit mit verschiedenen Hilfsprojekten da, wo dringend Hilfe benötigt wird. STELP hat uns dieses Interview zur Verfügung gestellt, der Autor ist Jakob Andratsch.

Wir treffen Patrick Münz, Head of Greece für STELP und LeaveNoOneBehind, via ZOOM und unterhalten uns fast zwei Stunden. Laura in Stuttgart, Caspar in Berlin, Bernadette und ich in Österreich – und Patrick auf Lesbos. Es ist ein warmer Samstagnachmittag, die Sonne scheint bei uns und bei Patrick ein wenig mehr, denken wir.

Patrick kommt aus der Nähe von Mannheim, ist gelernter Industriekaufmann. Für das Studium der Sozialwissenschaften ist er nach Stuttgart gezogen. Es folgten Einsätze als freiwilliger Helfer für STELP in Bosnien und Griechenland, und eigentlich wollte er studieren und nebenher Einsätze als Volunteer angehen – bis im September Moria gebrannt hat. Dann ist er sofort nach Griechenland geflogen, und seither dort vor Ort. Über Erik Marquardt, Grünenpolitiker und Mitglied des Europäischen Parlaments, wurden die Vorkehrungen für seinen Aufenthalt getroffen, als Legal Representative ist er seither für LeaveNoOneBehind tätig und als Head of Greece für STELP. Er war auf dem Weg in den Urlaub, erzählt er, als er von dem Brand in Moria erfahren hat. Man kann dann nicht einfach so in der Sonne herumliegen, er musste was tun. Seither ruht das Studium, er ist im Urlaubssemester. Wann er weiter macht, frage ich, und er erzählt von seinem Ziel. Dann, wenn die Hilfe nicht mehr vonnöten sei, wäre die Arbeit erledigt, sagt er. Wenn Menschen keine Hilfe mehr brauchen, leben wir im Paradies, denke ich.

Es ist eine große Ungerechtigkeit, dass zwischen der tatsächlichen Realität auf Lesbos und der medialen Berichterstattung so viel liegt, was nicht erzählt wird. Die Menschen wissen nicht, was an den Außengrenzen der EU geschieht, sie kennen nicht das Leid, das täglich über tausende Menschen hereinbricht. Und wenn sie es kennen, ist es meist so weit weg, dass es für die meisten bedeutungslos ist. In einer Woche kommen zwischen zwei und drei Boote auf Lesbos an, und im Durchschnitt schafft es eines bis ans Ufer der Insel. Die anderen beiden werden zurück ins Meer gezogen; Push-backs, so der Name dieser illegalen Aktionen, sind alltäglich. In der EU wird der Mensch rechtlich belangt, wenn er Hilfe unterlässt. An dieser Außengrenze bekommt der Mensch Probleme, wenn er einem anderen Menschen helfen will. Darüber gilt es nachzudenken. Journalisten und Journalistinnen haben keinen Zutritt zu den Camps und Interviews mit Geflüchteten werden systematisch unterbunden. Wie es wirklich ist, ist eine lange Geschichte.

Man kennt die Bilder und man kennt die Berichte der übers Mittelmeer Flüchtenden, die Berichte über überfüllte Gummiboote, die von den Wogen des Meeres ins Nirgendwo getragen werden. Das Nirgendwo ist der Tod übrigens, und das Leben ist hier Lesbos. Am besten in der Dunkelheit ankommen, wenn niemand Notiz nimmt, und schnell irgendwo in den Wald rennen, durchatmen, dankbar sein für die erfolgreiche Reise. Dann an gute Leute kommen und auf Hilfe hoffen, vielleicht auch etwas zu essen, Wasser zumindest. Oder an schlechte Leute kommen und verprügelt, misshandelt und gequält werden, vielleicht auch zurück ins Meer, ins Nirgendwo. Es ist gar nicht so einfach an die Guten zu kommen, aber es ist einfach zu den Guten zu gehören. Die Vorstellung ist jene: Wo das Licht ist, ist auch die Dunkelheit, und wo das Meer endet, beginnt das Land. Und wo griechische Polizei und europäische Grenzschutzbehörde sind, müssen Menschen wie Patrick sein. Auf Lesbos leben knapp 11.5000 Menschen, eingeteilt nach Qualität: Circa 20.000 Polizistinnen und Polizisten, 8.000 Geflüchtete, die Dunkelziffer ist hoch, und zu wenige wirkliche Helferinnen und Helfer wie Patrick. Viele fahren nach Lesbos, doch zu wenige können tatsächlich helfen. Der Rest ist Bevölkerung, unter ihnen ein mittlerweile groß gewordener Teil, der die Migration kategorisch ablehnt. Man könnte auch sagen, sie sind heimatverbunden und patriotisch, oder man sagt, sie sind egoistisch und rechts. Nach sechs Jahren mehren sich die Zweifel an der Situation, verändert hat sich wenig. Die Geflüchteten auf der Insel werden von den meisten abgelehnt, die faschistisch motivierten Übergriffe häufen sich, und die EU schließt die Augen. Das Versagen passiert auf vielen Ebenen.

Die EU hat eine Task Force damit beauftragt, die hygienischen Umstände in den Camps auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Das Ergebnis war durchweg positiv, schließlich reichen 400 Dixi Toiletten für 7.000 Menschen, und glücklicherweise hat die Pandemie auch nicht jedes Festival seit 15 Monaten untersagt, und somit gibt es auch keine Möglichkeiten, den derzeitigen Überschuss an nichtgenutzten Toilettencontainern anderweitig zu verwenden. Nein, Vakanz bleibt Vakanz, und manch einer darf gar nicht auf die Toilette gehen. Diese Toiletten sind auch tückisch, das muss man wissen, es lauern Krankheiten und Vergewaltigungen. Zum Glück bekommt das niemand mit. Ein lautes Auto fährt unten an der Straße vorbei, ich muss schnell mein Mikrofon stummschalten, irgendein Ferrari, ich schau ihm nach und verliere mich in Gedanken. Zurück zu Lesbos und seinen Geschichten.

Die Bedingungen in den Camps sind katastrophal. Es gibt kaum sanitäre Anlagen, keinen Strom, und das Leben findet in sogenannten “Sommerzelten” statt: Im Winter sind sie zu kalt, im Sommer zu heiß. Im Winter hat man Planen über die Stoffzelte gelegt, die Undurchlässigkeit hält die Wärme besser im Zelt, die Undurchlässigkeit hält aber auch die Feuchtigkeit besser im Zelt. Ergo schimmelt es, und kalt ist es auch, und nass auch: Fast wie in einer überfüllten Gondel in Kitzbühel. Winter bleibt Winter. Ungefähr. Zum Glück wissen wir das alles, darüber müssen wir also nicht weiter sprechen. Es wird auch alles wahrheitsgetreu berichtet, somit kennt man auch die Geschichten des verschimmelten Essens in den Camps und die umhergeschobene Verantwortung: Außengrenzen sind halt Außengrenzen und keine Innengrenzen. Wer draußen ist, ist draußen. Und damit das so bleibt, werden sie geschützt. Von FRONTEX. Doch das ist eine andere Geschichte.

Patrick ist drin, deutscher Staatsbürger, er hat alle Privilegien. Er muss nicht im Zelt schlafen und hat jene Freiheiten, welche die Geflüchteten auf Lesbos nicht haben. Er wirkt abgeklärt und selbstbewusst. Ich frage ihn, wie er mit all dem Erlebten umgeht. Man weiß, dass das, was man macht, richtig ist, sagt er, und zündet sich eine Zigarette an. Es gibt Freude und Motivation, und er grinst irgendwie gequält. Nach dem Brand in Moria wurde klar, dass Ersthilfe kriminalisiert werden kann. Es wurde ein Bußgeld von 250 Euro für jene Menschen ausgesetzt, die den hilfebedürftigen Menschen zu essen gaben. Guten Morgen Vater Fatalismus. Nach dem Brand in Moria lebten dutzende Menschen über Wochen hinweg auf einem eineinhalb Kilometer langen Straßenstreifen, der an allen Enden von der Polizei kontrolliert wurde. Menschen schliefen auf der Straße und tranken das Wasser aus den umliegenden Bewässerungsanlagen und wurden krank. Wenn der helfende Mensch dem hilfebedürftigen Menschen zur Seite stehen wollte, wurde er weggeschoben. Als Mitarbeiterin oder Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, kurz NGO, ist man auf der Insel kein gern gesehener Gast. Es gibt Tage, Nationalfeiertage, da warnt der Bäcker die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der NGOs, heute lieber nicht vor die Türe zu gehen. Solidarität ist selten, aber sie ist da. Die Stimmung ist aufgeheizt, es prallen Welten aufeinander: Jene der Nächstenliebe und jene der Ignoranz, und diese zwei vertragen sich historisch betrachtet nie gut.

Das neue Lager, Mavrovouni, muss schnellstmöglich geräumt werden, sagt Patrick. Es macht keinen Sinn, eine Infrastruktur zu errichten. Es ist ein temporäres Zeltlager, oder zumindest sollte es das sein. Die Aussicht aber ist eine andere: Wie bereits ähnliche Zeltlager, wird auch Mavroupani keine Übergangslösung sein, sondern zur Dauerlösung werden. Die Situation auf Lesbos ist ein Armutszeugnis für die Politik der EU. Patrick will in einem Jahr seine Sachen packen und die Insel verlassen, weil seine Hilfe nicht mehr benötigt werden soll. Es schwingt Optimismus durch unser Zoom-Meeting, die Devise scheint zu sein, das Leid im Kleinen kurzfristig zu lindern und auf viele große Lösungen zu hoffen: Ein wenig Hoffnung.

 

Jakob Andratsch 

Jakob Andratsch, STELP. 1995 in Waiblingen bei Stuttgart geboren. Studium der Deutschen Philologie in Wien. Schriftsteller und Drehbuchautor sowie Regisseur. Seit 2020 Autor für STELP.

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