Die Corona-Pandemie hat innerhalb weniger Wochen sämtliche Pläne der Menschheit über den Haufen geworfen und kurzzeitig ganze Städte zum Erliegen gebracht. Da Not bekanntlich erfinderisch macht, sind in dieser Zeit allerdings viele kleine Initiativen und kreative Ideen entstanden, die Betroffene über Wasser halten und unsere Stadt im Besten Fall langfristig bereichern. Wir haben uns teilweise noch vor den ersten Lockerungen mit StadtPalais-Direktor Dr. Torben Giese, Caroline Lahode vom Stadtlücken e.V., Sven Hahn von der City Initiative Stuttgart und Maral Koohestanian vom Fraunhofer Institut über die coronabedingte Stadtentwicklung und damit einhergehende Ideen und Chancen unterhalten:
Dr. Torben Giese, promovierter Historiker und Direktor des StadtPalais – Museum für Stuttgart:
„Das Großartigste am urbanen Raum ist ja, dass er lebendig ist und das ist auch das Entscheidende einer Stadt. Da genau das zur Zeit nicht möglich ist, können diese Stärken nicht ausgespielt werden. Allerdings könnte man als Chance sehen, dass wir in dieser Zeit merken, dass eine Innenstadt mehr als nur ein Ort zum Einkaufen sein sollte. Wir sollten uns fragen: Ist das alles, was wir wollen? Oder brauchen wir auch Orte, an denen wir wirklich Zeit verbringen können? Auch in Anbetracht des immer stärker werdenden Onlinehandels wäre ein Umdenken angebracht. Ich bin wirklich niemand, der gerne shoppen geht – das vermisse ich also überhaupt nicht und um Clubs zu besuchen, bin ich mittlerweile zu alt. Mehr gibt es aber fast nicht in unserer Innenstadt und das ist doch eigentlich schade.
Das, was wir im StadtPalais einmal im Jahr mit „Stuttgart am Meer“ versuchen, also einen öffentlichen Raum für alle zu schaffen – warum sollen solche Räume nicht über etwas Temporäres hinaus gehen? Ein interessanter Ort ist beispielsweise der Eckensee. An sich ein spannendes Gebiet – aber so kaum nutzbar. Das ist jetzt nur eine Utopie und ich weiß, dass das alles rein rechtlich nicht möglich ist, aber warum nicht den Eckensee mit Stegen, einem Spielplatz und einem Kiosk versehen und so auch Familien mit Kindern, die im Moment darauf warten, dass die Wilhelma wieder aufmacht, einen Anreiz geben, die Innenstadt zu besuchen?
Diese menschenleere Stadt, wenn man so vom Hauptbahnhof Richtung Schlossplatz läuft, hat natürlich auch irgendwie eine romantische Seite: „Ach wie ist das alles ruhig und so wenig Verkehr!“ – aber es fühlt sich auch seltsam an, weil es ein Ort ist, der von seiner Lebendigkeit lebt. Natürlich könnte man auch Chancen im ausbleibenden Verkehr sehen – der bringt aber mit sich, dass auch die Menschen ausbleiben. Die Stadt ist nunmal kein Naturraum, sondern bebauter Raum, in dem sich die Natur vielleicht Stücke zurückholt, aber nicht im Mittelpunkt steht. So ist Stadt. Und durch Corona sollten wir uns vielleicht die Frage stellen, was die Stadt für eine Funktion für uns hat, wie wir sie gestalten und bespielen wollen.“
Carolin Lahode, eine von zwei Vorständen beim Stadtlücken e.V., Architektin und arbeitet an der Hochschule für Technik im Bereich Stadtplanung
„Ich habe seit den Lockerungen bemerkt, dass die Leute die Plätze wieder nutzen. Das war vor Corona nicht so. Man sieht auch Eltern mit ihren Kindern und andere Menschen, die davor vielleicht eher im Zentrum von einem Laden zum nächsten geschlendert wären. Jetzt sitzen die Menschen zu zweit auf einer Bank, essen und trinken Sachen, die sie sich von daheim mitgebracht haben und unterhalten sich. Es ist schön zu sehen, dass der Raum so genutzt werden kann.
Ich persönlich finde es eigentlich ganz angenehm, dass nicht so viel offen hat und sich die Menschen mit ihrem näheren Umfeld auseinander setzen müssen. Ich würde mir wünschen, dass wir das auch nach Corona beibehalten und dass wir uns weiterhin Gedanken machen, wie wir den öffentlichen Raum nutzen wollen. Dass man sich vor der eigenen Haustüre umschaut und nicht immer ins Zentrum fährt.
Heute früh hab ich einen Mitschnitt im Deutschlandradio gehört: Interviewt wurde der Philosoph Mickaël Labbé, der meinte, man müsse sich die unmittelbare Umgebung zurückerobern – sei es die nächste große Baustelle oder ein nahegelegener Grünstreifen – man solle sich einfach mal umschauen und sehen, was da passiert. Vielleicht bekäme man ja Lust, irgendwas mitzugestalten und Ideen zu entwickeln. Ich glaube schon, dass sich viel ändern kann, wenn das einige Leute machen. Es können Begegnungsorte entstehen, wo man mit anderen in Kontakt komm, wenn man wieder darf.
Aus diesen Austauschmöglichkeiten können sich neue Dinge und Initiativen entwickeln und Plätze entstehen, die nicht konsumorientiert sind und an denen man ein Gefühl von Freiheit hat, selbst zu entscheiden, was dort passieren soll. In Berlin wurden temporäre Spielstraßen realisiert, da der Bedarf an Freiraum so groß war. Vielleicht merken die Leute dadurch, dass sowas Sinn macht und wollen es auch nach der Krise beibehalten. Durch Corona entstehen Möglichkeiten, Dinge einfach mal auszuprobieren. Vielleicht kann so auch etwas Längerfristiges entstehen.“
Sven Hahn, City Initiative Stuttgart
„Unsere Stadt funktioniert als ein großes Ganzes: Da gehören sowohl Kulturbetriebe als auch Vereine, Gewerbe, Händler, Veranstalter und viele mehr dazu. Nur wenn die alle funktionieren, haben Menschen in Stuttgart die Möglichkeit, etwas zu erleben. Momentan sind einfach alle betroffen von der Krise und bei vielen geht es wirklich um die Existenz. Wir haben hier so eine große Vielfalt an alten, neuen, internationalen, inhabergeführten, teuren und günstigeren Gewerben – es wäre unheimlich schade, wenn uns das verloren geht. Das lässt sich dann nicht so einfach wieder hinbiegen. Hier unterstützen zum Beispiel viele Gewerbe die örtlichen Veranstaltungen wie das Weindorf und den CSD. Wenn die aber wirtschaftlich nicht mehr so gut dastehen, fällt diese Unterstützung weg. Durch die mangelnde Beteiligung kann auf Dauer viel kaputt gehen und die Stadt wird weniger bunt und attraktiv sein.
Momentan ist ein toller Zusammenhalt spürbar und es gibt viele neue Initiativen, aber das alles kann den Treffpunkt Stadt nicht ersetzen. Viele werden jetzt versuchen, digital besser zu werden. Doch das ist gar nicht so einfach, da stecken hohe Investitionen dahinter, so ein Onlineauftritt lässt sich nicht einfach herbeizaubern. Außerdem kann das Internet nicht alles ersetzen. Es ist so viel effektiver und schöner, wenn man einfach miteinander sprechen kann. Zwischenmenschliche Beziehungen und persönliche Interaktion sind so wichtig, das wird im Moment noch deutlicher.
Daher sollte man jetzt lokal einkaufen, um die Stadt als Mikrokosmos zu unterstützen. Das braucht dann manchmal zwei Klicks mehr als Amazon, aber man unterstützt damit nicht nur die lokalen Läden, sondern letztendlich die gesamte Stadt. Es ist wichtig, sich auf die Angebote hier vor Ort zu konzentrieren – egal ob Shopping, Gastro oder Kultur. Ich würde mir wünschen, dass dieser anfängliche Solidaritäts-Spirit auch in der Zukunft bestehen bleibt.“
Maral Koohestanian, Founding Curator der Global Shapers Stuttgart und Koordinatorin der Morgenstadt Initiative beim Fraunhofer IAO
„Ich wohne in Stuttgart-West. Hier scheint es mir, als ob alle die, die im Homeoffice sind, um die Mittagszeit ihre Runden um den Feuersee und über die Karlshöhe drehen, sich zum Mittagessen auf den Bänken treffen oder bei gutem Wetter einfach auch von draußen aus arbeiten. Das hat man vorher natürlich nicht so oft gesehen.
Der Einzelhandel, Cafés, Bars, Restaurants, das Nachtleben, das Kulturangebot – alles das, was unser Zusammenleben in der Stadt ausmacht und weshalb es gerade die jungen Leute in die Stadt zieht, steht allerdings gerade still. Das ist nicht nur für die Menschen schwierig, sondern vor allem für die Betreiber. Sollten gerade solche Läden der Krise nicht standhalten können, verändert sich auch das Angebot. Das wirkt sich langfristig auf die Lebensqualität in unserer Stadt aus.
Ich bin froh, dass unsere öffentlichen Plätze gerade trotzdem noch genutzt werden können – auf Abstand natürlich. Ganz wichtig und ein unglaublich schnell wachsendes, konstantes Risiko ist, dass wir den Klimaschutz vernachlässigen. Wir haben wirklich nur noch wenig Zeit und wenn wir uns die nächsten Jahre um die Folgen der Coronakrise kümmern müssen, haben wir die Grenze überschritten. Dabei dürfen wir nicht vergessen: Uns bleiben nur noch 10 Jahre!
Ich glaube, die Pandemie bringt aber auch viele Chancen mit sich. Wir merken ja, wie flexibel BürgerInnen, aber auch die Politik darauf reagieren. Als wir zu Beginn der Krise Hamsterkäufe beobachten konnten, waren die Regale leer. Das hat sich jetzt zum Glück gelegt – trotzdem konnten die Produkte von weit her nicht so schnell nachgeliefert werden wie Regionales! Ich hoffe, dass wir auch langfristig mehr darauf achten Obst, Gemüse, Fleisch und Käse aus der Region und passend zur Saison zu kaufen. Das stärkt nicht nur die regionale Produktion, sondern verkürzt auch die Lieferwege extrem – das wiederum bedeutet dann weniger Transportverkehr, weniger LKWs und weniger CO2-Ausstoß auf unseren Straßen.
Wenn man das ganze Szenario noch etwas weiter spinnen wollte, dann könnte man sich fragen: Was passiert mit unseren Bürogebäuden, die durch das Homeoffice so vielleicht gar nicht mehr in diesen Größen benötigt werden? Was für manche dystopisch klingt, ist gar nicht mehr so weit von uns entfernt. Co-Living und Co-Working Konzepte gab es schon vor der Krise – vielleicht wachsen diese beiden Konzepte in der Zukunft ja noch näher zusammen. Das würde nicht nur weniger Verkehr durch Pendeln bedeuten, sondern vielleicht könnte man auch der Wohnungsnot etwas entgegenkommen.“
1 Kommentar
Maike
1. Juni 2020 at 12:46Wie passt das Statement zur CO2 Reduktion von Frau Koohestanian zu ihrem Lebensstil auf Instagram? Jetset leben zwischen Deutschland und Portugal? Wasser predigen und Wein trinken macht so eine dogmatische Aussage wie hier sehr zweifelhaft und unglaubwürdig. Schade drum, dass dies die anderen Beiträge so herab wertet.